Angelika Messner
Morallandschaften in der gegenwärtigen VR China: Wandel und Kontinuität
Die Familie stand im chinesischen historischen Kontext, in Theorie und zumeist auch in der Praxis, bislang für die Fürsorge alter und kranker Mitglieder ein. Stimmt es, dass rasante Transformationsprozesse in der gegenwärtigen VR China die Ablöseprozesse von einer kollektivistisch organisierten Gesellschaft hin zu einer individualistisch strukturierten Sozialwelt vorantreiben? Fest steht, dass die Lockerung des hukou-Systems (Haushaltsregistrierung) in den 1990er Jahren, mehr und mehr Menschen ermöglichte, in die Städte zu ziehen, um bessere Arbeit zu finden. Das deutlich erhöhte Mobilitätsaufkommen führte dazu, dass alte Menschen alleine zurück bleiben, was eine erhebliche Veränderung in den Familienstrukturen erwirkt. Zeigt sich hier die Auflösung „sozialer Formen“, wie sie Ulrich Beck und Beck-Gernsheim als zentrale Aspekte von Individualisationsprozessen in der Spätmoderne beschrieben haben? Wo und wie machen sich Verunsicherung und Hilflosigkeit als Begleiterscheinungen der Auflösung sozialer Formen wie der Familienverbände, bemerkbar? Was gestern noch als verbindliche und zentrale Tugend galt, die Kindespietät (xiao 孝) etwa, zeigt sich in aktuellen Lebensverläufen als obsolet. Eine zentrale Rolle für die Ausübung dieser Tugend spielten die Alten: Diese Tugend implizierte die Würdigung und den respektvollen Umgang mit den Alternden in der eigenen Familie bis hin zu völligen Selbstaufgabe. Wie sah die Praxis im Einzelfall aus? Im Vortrag werden Problemlagen diskutiert, die um die Frage kreisen, inwiefern sich die veränderten Familienstrukturen auch in sich verändernden Morallandschaften zeigen? Warum bemüht sich die Regierung gegenwärtig darum, die Tugend der Kindespietät, die bislang als Kitt eines ungeschriebenen Generationenvertrages zu fungieren schien, wieder in die Köpfe und Herzen der Menschen pflanzen?
Sascha Klotzbücher
Zwischen Mao und Mutter: Versteckte Loyalitäten in Familien
Die Denunziation der Eltern in der Kulturrevolution gehört zu den konflikthaftesten Ereignissen in der eigenen Identität und Familiengeschichte. Bekannt geworden ist Zhang Hongbing, der seine Mutter 1970 denunziert hat, die Wochen später exekutiert wurde. In seinem langjährigen Kampf, das Grab seiner Mutter mitten in einem heute bebauten Wohngebiet zu erhalten, ließ sich Zhang Hongbing im Jahr 2013 auch von ausländischen Journalisten interviewen und veröffentlichte seine Geschichte und Originalzeugnisse im Internet. Die Denunziation der Mutter ist nur eines von vielen Beispielen, in denen private und politische Konflikte nicht klar zu trennen sind, sondern durch die Entgrenzung vielmehr eine eigentümliche Dynamik erlangt haben. Ich frage nach der Verschränkung von Öffentlichem und Privatem, also inwieweit die klare Abtrennung der Familie damals wie heute eine „Phantasie“ (Sangren) oder Teil der Vergangenheitsbearbeitung ist. Die Loyalität zu Mao spielt dabei zur Zeit der Denunziation sowohl als auch in der Bearbeitung heute eine besondere Rolle. Ich frage nach der eigentümlichen Struktur dieser Bindung zum Objekt „Mao“ und welche Rolle diese Objektbindung spielt, um das Familiäre in einer Sohn-Mutter-Beziehung abzuschütteln und sie als Konterrevolutionärin bloßzustellen. Dahinter stehen bestimmte soziale Rollen, die im Maoismus massiv propagiert und auch heute die Trauer und Enttäuschung über sich selbst zu verdecken. Auch frage ich, wie dieses ins Familiäre abgeschobene Rollenverständnis und die damit verbundenen Gefühls- und Wahrnehmungsmuster den heutigen Familienalltag und Selbst- bzw. Fremdwahrnehmung strukturieren, also die Familie als ein Container für kulturrevolutionäre Selbstidentitäten zu verstehen ist.